Vor 45 Jahren wird eine Lufthansa-Maschine von palästinensischen Terroristen entführt – eine Überlebende erzählt

Diana Müll gewinnt eine Reise nach Mallorca. Auf der Rückreise wird das Flugzeug entführt. Die Terroristen wollen die 19jährige als Erste erschießen. Ein Alptraum, der sie noch lange begleiten wird.

Fotos: Andreas Lotz

„Man konnte heute die berühmte Stecknadel fallen hören“, Christian Stücken vom Bayerischen Fernsehen ist beeindruckt. Er und sein Team sind heute Gast an unserer Schule. 90 SchülerInnen und Lehrerinnen haben zuvor über zwei Stunden lang hoch konzentriert die Geschichte von Diana Müll gehört. Unser heutiger Gast ist Überlebende einer Flugzeugenführung. Das Bayerische Fernsehen ist bei der Veranstaltung auch dabei. Sie drehen eine Dokumentation über das, was Diana Müll damals erleiden musste und wie es ihr heute geht. Die Powi-LehrerInnen Sonja Locher, Hans Rubinich und Stefan Reinhardt haben Diana Müll eingeladen.

Sie berichtet nicht nur von den fünf Tagen, in denen sie mit den anderen Passagieren in Todesangst schwebte – sie erzählt auch, wie sich nach der Entführung ihr Leben veränderte, das Trauma in ihr weiterlebte. Der Verfolgungswahn, so Diana Müll, sei nicht mehr auszuhalten gewesen. Überall vermutete sie jemand: Im Kofferraum ihres Autos, in der Dachluke oder im Schrank. „Ich dachte immer, da kommt einer raus.“ Der normale Alltag musste möglich sein, doch es sei immer schlimmer geworden: Nachdem sie sogar den Arzneischrank offenstehen ließ, weil sie auch dort jemanden drin vermutete, sprach eine Freundin ein Machtwort. Sie sagte nur: „So Diana – jetzt ist Schluss. Du machst eine Therapie.“ Das war der erste Schritt zurück zu einem normalen Leben. Die Ereignisse, die nun über 45 Jahre her sind, haben sich tief bei ihr festgesetzt. Die heute 63jährige, mit langem schwarzem Haar, hat eine lebhafte Gestik, wenn sie erzählt, so, als liefe ein Film vor ihr ab und sie ihn kommentiert.

Ihre Geschichte beginnt mit einem Glücksgefühl. Sie hat in einer Diskothek bei einer Spaß-Misswahl eine Reise nach Mallorca gewonnen. Zusammen mit anderen „sieben verrückten Frauen“ genießt sie im Oktober 1977 ein paar Tage mit Sonnenbaden und Cocktails an der Bar. Nur mit viel Mühle gelingt es dem Geschäftsführer der Diskothek nach einer Woche die Mädchen „einzufangen“ und am 13. Oktober zum Flughafen zu bringen. Als sie ankommen, ist der Flug LH 181 nach Frankfurt am Main schon startklar. „Eigentlich wären die ohne uns losgeflogen“, erzählt Diana Müll. „Sie haben sie uns dann noch reingestopft.“

Flugzeuge werden in den siebziger Jahren selten entführt. Kontrollen am Flughafen gibt es kaum. Waffen lassen sich einfach an Bord mitnehmen. Die Fluggäste sind daher völlig unvorbereitet auf das, was sie nun an Bord erleben. Neben Diana Müll sitzt ein Pärchen, vor ihr ein anderes. Nach einer Dreiviertelstunde springen einer der Männer und seine Frau auf, schreien, fuchteln mit einer Pistole und einer Handgranate. Diana Müll sieht die Bedrohung erst gar nicht. Das ändert sich schnell. Im nächsten Moment stürmen alle vier nach vorne und drängen die Stewardess zur Seite. Ihr Chef, er nennt sich Kapitän Mahmud, macht schnell klar, worum es geht. Das Flugzeug sei nun in ihrer Gewalt und sie hätten eine Forderung an die Bundesregierung.

Erschießung nach Nummern

Deutschland im Herbst 1977. Seit sieben Jahren haben Angehörige der Rote-Armee-Fraktion dem deutschen Staat den Krieg erklärt. Sie überfallen Banken, zünden Bomben und erschießen Vertreter von Staat und Wirtschaft. Es gelingt zwar die Führungsriege um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin festzunehmen, doch die sogenannte Zweite Generation macht weiter. Sie entführen den Arbeitgeber- Präsidenten Hanns Martin Schleyer. Ihre Forderung: Die in Deutschland inhaftierten Terroristen der Roten-Armee-Fraktion sollen freigelassen werden. Andernfalls werde Schleyer erschossen.

Die Bundesregierung geht darauf nicht ein, spielt auf Zeit. Die Terroristen an Bord der Lufthansa-Maschine, vier Palästinenser, arbeiten mit der RAF zusammen. Sie drohen, das Flugzeug in die Luft zu sprengen, sollte die Bundesregierung nicht nachgeben. Diana Müll sagt heute rückblickend, den Passagieren sei es von Anfang an klar gewesen, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt niemals auf die Forderungen der Entführer eingegangen wäre. Auch wenn das Müll nachvollziehen kann. „Weil ich mitbekommen habe, was diese Bande angestellt hat“, sagt sie.

Fünf Tage dauert der Terror an Bord. Fünf Tage, die für die Passagiere kaum auszuhalten sind. Es gibt fast nichts zu essen oder zu trinken. Die Toiletten sind verstopft. Die permanente Todesangst sei das Schlimmste gewesen, sagt Diana Müll. Die vier Kidnapper seien unzählige Male den Gang auf- und abgegangen und vor irgendeinem Passagier stehen geblieben. Wenn die einen angeschaut hätten, habe man davon ausgehen müssen, dass bald der Knauf der Pistole auf den Kopf knalle, erinnert sie sich.

Der Flug geht dabei immer weiter. Die Terroristen zwingen die Piloten erst nach Rom, dann nach Larnaka auf Zypern zu fliegen. Am zweiten Tag landet die „Landshut“ in Dubai. Die Klimaanlage ist ausgefallen und die Mittagshitze steigt auf 60 Grad. Die Passagiere sind schweißgebadet und halb verdurstet. Mahmud, der Anführer, will weiter fliegen nach Aden, der Hauptstadt Jemens. Dort soll die Entführung enden – so sieht es der Plan der Terroristen vor. Dubai ist auf ihrem Weg dorthin nur eine Zwischenstation. Zuvor muss die Maschine aufgetankt werden.

Was die Passagiere nicht wissen: Eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, fliegt der „Landshut“ hinterher. Sie sind von der Bundesregierung beauftragt, die Maschine zu stürmen. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate eingeweiht und verlangt, dass die Maschine auf keinen Fall in Dubai wieder startet. Sie muss am Boden bleiben, nur so könnten die Geiseln befreit werden. Die Regierung in Dubai ist einverstanden und weigert sich die Maschine aufzutanken. Mahmud, der Anführer der Terroristen, ist außer sich. Er nimmt das Funkmikrophon und schreit, er werde die ersten Passagiere erschießen, sollte nicht aufgetankt werden.

„Dann“, so Diana Müll, „hat er auf uns gedeutet. Wir mussten uns vor ihm hinknien“. Mahmud gibt jedem eine Nummer. Und sagt: „Ich setzte euch jetzt wieder hin und rufe euch gleich zum Erschießen“. Diana Müll hat auch eine Nummer bekommen. Zuerst ist ihr Sitznachbar Gerry dran. Er geht nach vorne, die Terroristen ziehen den Vorhang zu, der die Flugklassen trennt. „Dann haben wir alle nur noch auf den Schuss gewartet“, sagt Diana Müll. “. Seine Freundin wäre durchgedreht. Sie hätte ohne Ende geheult und geschrien. Es sei furchtbar gewesen. „Doch nichts passiert“. Gerry kommt zurück und sagt zu Diana, Mahmud habe es sich anders überlegt. Sie solle zuerst erschossen werden.

Schon kommt Mahmud auf sie zu und drängt sie durch den Gang. Er will von ihr wissen, wie sie heißt und woher sie kommt. Dann ruft er den Tower an und sagt: „Letzte Chance, die Maschine aufzutanken. Sonst erschieße ich Diana, 19, aus Gießen“. Im Tower antwortet niemand. Mahmud drängt sie zur halboffenen Tür des Flugzeugs, die Pistole lässt er nicht von ihrer Schläfe. Zu den beiden gesellt sich eine der Terroristinnen, die seelenruhig einen Apfel ist. Mahmud beginnt auf zehn zu zählen.

In Gedanken habe Diana ihre Familie gesehen und allen Adieu gesagt. Dann habe sie rausgeschaut zur Sonne und die Augen zugemacht. Machmud ist bei zehn angelangt. Aus dem Tower kommt über Funk: „Wir tanken auf“. Machmud senkt die Pistole. Diana wird ohnmächtig und findet sich später in ihrem Sitz wieder. Sie ist zwar für den Moment mit dem Leben davongekommen, dennoch sind noch alle Passagiere in der Gewalt der Entführer, die weiter drohen die Maschine in die Luft zu sprengen.

Kein Erbarmen der Scheichs

Am Sonntag hebt die „Landshut“ ab und landet knapp vier Stunden später im Jemen, dem Ziel der Terroristen. Doch es wird zu keinem Austausch der Gefangenen kommen. Entgegen dem ursprünglichen Plan lässt die Regierung in Aden die Landebahn blockieren. Weshalb – ist bis heute nicht geklärt. Da der Treibstoff zu Ende geht und die Maschine abzustürzen droht, müssen Pilot Jürgen Schumann sein Co-Pilot Jürgen Vietor auf einem Sandstreifen notlanden. Um zu sehen, ob das Fahrwerk beschädigt ist, gestattet Mahmud dem Piloten auszusteigen. Doch Schumann hat anders vor. Er geht auf die Soldaten zu, die das Flugzeug umstellt haben und lässt sich zu Scheich Ahmed Mansur bringen, der am Ende des Rollfeldes steht. Er bittet darum, die Maschine nicht wieder fliegen zu lassen, Doch der Scheich lehnt ab. Er will in keine Entführung verwickelt werden, erklärt Diana Müll den Schülern.

In der Maschine ist Anführer Mahmud außer sich. Der Pilot hätte seine Mannschaft im Stich gelassen, sie verraten, tobt er. Und vielleicht hat er auch den Verdacht gehabt, Schumann hätte mit dem Scheich verhandelt.

Als Pilot Jürgen Schuman nach einer halben Stunde zurückkehrt, fackelt Mahmud nicht lange. „Wir wussten, dass der jetzt stirbt“, erzählt Diana Müll. Pilot Schumann muss sich vor Mahmud hinknien. Diana Müll sitzt fast neben hin, als Mahmud ihn erschießt.

Die „Landshut“ wird wieder aufgetankt und fliegt weiter nach Mogadischu, der Hauptstadt von Somalia. Vermutlich stand dieses Ziel schon zuvor als Ausweichplan fest. Der Präsident, so nehmen die Entführer an, sympathisiere mit den Palästinensern. Die GSG 9 fliegt der Maschine nach, aus Bonn landet Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski in Mogadischu. Er verhandelt mit dem somalischen Staatschef Siad Barre, der schließlich zustimmt, dass nicht seine Leute, sondern die GSG 9 die Maschine stürmen. Die Bundesregierung wird später Somalia als Dank einen Kredit über 25 Millionen Mark gewähren.

In der Maschine spitzt sich die Lage zu. Die Bundesregierung in Bonn scheint weiter hart zu bleiben. Mahmud droht nun die Maschine in die Luft zu sprengen. Einige Ultimaten verstreichen. Ich glaube, meint Diana Müll heute, alle seien sich sicher gewesen, dass die Terroristen am Ende Ernst gemacht hätten. „Für mich war es klar, als er gesagt hat: Jetzt geht’s los. Wir bereiten die Sprengung vor.“ Er und die seine Komplizen seien dann von Sitz zu Sitz gegangen und hätten alle Passagiere gefesselt und mit Alkohol übergossen. „So brennt ihr besser“, erklärt ihnen Mahmud. Diana Müll habe ihrer Freundin damals gesagt, wenn er jetzt vorbeikommt, würde sie ihm ins Gesicht spucken. „Der Gedanke, dass ich jetzt langsam verbrenne, das war für mich die Hölle. Der sollte mir lieber eine Kugel in den Kopf schießen.“

Dann wendet sich das Blatt. Mahmud wird vom Tower unterrichtet, die Bundesregierung gebe nach. Die Gefangenen würden ausgetauscht werden. Es werde allerdings ein paar Stunden dauern, bis sie alle nach Somalia ausgeflogen seien. Machmud geht darauf ein, eilt zu den Passagieren und beglückwünscht sie. Sie sollten feiern und sich freuen.

Was er und die Passagiere nicht wissen: Die Bundesregierung blufft. In Wirklichkeit will sie Zeit gewinnen. Die Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, muss noch einiges vorbereiten, bevor sie in der Nacht mit ihrer Mission beginnen kann. Diana sei damals skeptisch gewesen und hätte sich gefragt: „Wieso haben die so lange gewartet?“

In der Nacht stürmt die GSG 9 die Maschine. In dem Schusswechsel werden drei der vier Terroristen sterben. Alle 91 Geiseln überleben, Diana Müll weiß zunächst nicht, was passiert. Irgendjemand hat plötzlich gerufen: „Kopf runter“. Und dann fielen Schüsse. Es sei wie im Krieg gewesen. Als es ruhiger wird, dreht sie sich um. Sie schaut in den Gang und bekommt fast einen Herzschlag. Ein Mann ganz in Schwarz sei auf allen vieren zu ihr gekommen. Sie erkennt nicht den GSG9 Mann, der sich getarnt hat. Sie glaubt, nun werde sie gefangen genommen. Sie kriecht unter ihren Vordersitz und klammert sich fest. Später ziehen sie die Männer der GSG 9 Truppe aus ihrem Versteck.

Die Maschine landet in Frankfurt. Diana Mülls Eltern sind gekommen.

In derselben Nacht, am 18.Oktober 1977 berichtet der Deutschlandfunk über die gelungene Befreiung der Geiseln. Die Nachricht gelangt zu der Führungsriege der RAF in der Haftanstalt Stuttgart Stammheim. Einer der Terroristen, Jan-Carl Raspe, hat in seiner Zelle ein Radio. Er informiert die andern. Am frühen Morgen finden die Wachleute die drei Top-Terroristen tot in ihren Zellen. Die Behörden gehen von einem kollektiven Selbstmord aus. Daheim erfährt Diana Müll, was sich während ihrer Entführung bei ihr zu Hause abgespielt hat. Ihre Mutter sei fast durchgedreht und hätte sich ein Handtuch vor den Mund gehalten. Damit niemand ihre Schreie hört.

Diana Müll beginnt eine Therapie. Die Kosten muss sie damals selbst tragen. Weder die Lufthansa noch die Krankenkasse kommen dafür auf. Die Begründung: Eine Flugzeug-Entführung sei höhere Gewalt. Bis heute kämpft Diana Müll um eine Entschädigungs-Rente.

Fast zwei Stunden – ohne Pause – haben die Schüler ihrem Vortrag zugehört. Kein Murmeln, kein Rascheln, kein Handy. Nach einer kleinen Pause kommen viele Schüler wieder zu ihr, haben Fragen. Ja, sie fliege wieder, sagt sie, gebetet habe sie auch immer und sie hätte viel an ihre Eltern gedacht.

In Gießen eröffnet Diana einen Kosmetikladen. Sie hat eine erwachsene Tochter. Mit dem Co-Piloten und noch überlebenden Passagieren trifft sie sich oft.

Über die Ereignisse von damals hat sie ein Buch geschrieben: „Mogadischu – Die Entführung der „Landshut“ und meine dramatische Befreiung. Für Schüler unserer Schule gibt es das Buch auch von ihr handsigniert.

Nach fast drei Stunden, es ist schon nach 14.00, verabschieden sich die Schüler von ihr. Das Team vom Bayerischen Fernsehen packt die Koffer. Sie sind sehr zufrieden. Ihr Film über die Diana Müll soll im Mai gesendet werden.

https://www.m-vg.de/autor/8286-diana-muel

Hans Rubinich, März 2023